Kritische Rückfragen und Kommentare des Islamwissenschaftlers Dr. Carsten Polanz in Form eines Thesenpapiers

(Gutachten vom Februar 2019 im Auftrag des Ev. Kirchenbezirks Pforzheim Land)

„Christen und Muslime. Gesprächspapier zu einer theologischen Wegbestimmung der Evangelischen Landeskirche in Baden“ (September 2018²)

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Vorbemerkungen

Als Referent im kirchlichen Bildungsbereich und als Redaktionsleiter der zweisprachigen Zeitschrift „Islam und christlicher Glaube/Islam and Christianity“ habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit Fragen der christlich-muslimischen Begegnung und des Vergleichs aus christlicher Perspektive befasst. Das vorliegende Gutachten in Form eines Thesenpapiers konzentriert sich vor allem auf die im Gesprächspaper (GP) skizzierten „Wegmarken im christlich-islamischen Gespräch“ und hier vor allem auf die islamwissenschaftlich relevanten Themenfelder, die dort behandelt oder zumindest kurz angerissen werden. Weniger Berücksichtigung finden dagegen die Schlussfolgerungen für die praktischen Handlungsfelder. Empfehlungen wie eine Intensivierung gottesdienstlicher Gemeinschaft bauen nach meiner Überzeugung auf der verzerrten und harmonisierenden Darstellung christlichen und muslimischen Glaubens auf und sollten nach einer umfassenden Überarbeitung der „Wegmarken“ selbstverständlich auch nochmal gründlich überdacht werden.

These 1: Der wahrheitspluralistische Ansatz des GP wird weder dem christlichen noch dem islamischen Selbstverständnis gerecht und scheint zu einem problematischen Toleranzbegriff zu führen.

Das GP merkt zwar mehrfach an, dass es keinesfalls Beliebigkeit oder Relativismus in der christlich-muslimischen Begegnung anstrebt, scheint aber doch an vielen Stellen, in denen man eigentlich einen deutlichen Widerspruch zwischen dem biblischen und dem koranischen Zeugnis und zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch des biblischen Jesus und dem Wahrheitsanspruch Mohammeds im Koran konstatieren müsste, einem Wahrheitspluralismus das Wort zu reden. Nach dem GP geht es bei „Wahrheit“ um „verlässliche Beziehung“. Dabei sei „objektivierbare Richtigkeit […] nicht ausreichend und auch nicht der entscheidende Punkt, wenngleich das Erkenntnismoment damit nicht bedeutungslos wird.“ (12) Anschließend folgt der Verweis auf Johannes 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Der Vers wird im GP gleich mehrfach zitiert, aber aus dem folgenden Nachsatz Jesu „Niemand kommt zum Vater denn nur durch mich.“ werden überhaupt keine Konsequenzen für das Verhältnis zum Islam, den missionarischen Auftrag der Christen und die Begegnung mit Muslimen gezogen.

Folgt man diesem wahrheitspluralistischen Ansatz, verändert sich zwangsläufig auch das Verständnis von dem, was mit der im GP viel beschworenen Toleranz gemeint ist. Geht es klassischen Toleranz-Konzepten und dem lateinischen Ursprung des Begriffs folgend um das Aushalten, Ertragen, Erdulden, vielleicht sogar Erleiden fundamentaler Differenzen, die man offen an- und ausspricht, aber nicht zum Anlass nimmt, den anderen mit Gewalt, Zwang, Einschüchterung oder anderen unlauteren Mitteln von der eigenen Sicht zu überzeugen? Oder geht es den GP-Verfassern darum, sich widersprechende Glaubensvorstellungen, Werte, Lebensstile und Wahrheitsansprüche (aus falscher Rücksicht und zu Gunsten eines nur sehr oberflächlichen und trügerischen Friedens) gleichermaßen wahr, gut und gültig zu finden.

Letzteres ist freilich in letzter Konsequenz überhaupt nicht lebbar. Aber wo eine solche Haltung im Blick auf christlich-islamische Weggemeinschaft dominiert, werden dringend notwendige (in aller Sachlichkeit und zwischenmenschlichem Respekt zu führende) Debatten unterdrückt und wirklich tiefgehende Begegnungen und Gespräche gerade zwischen Christen und Muslimen, die ihren jeweiligen Glauben und seine grundlegenden Quellen noch ernst nehmen, im Namen so genannter Toleranz unterbunden. Alles muss demnach relativiert werden, nur nicht der religiöse (und oft auch moralische) Relativismus selbst. Am Ende bleibt eine zutiefst widersprüchliche „intolerante Toleranz“ (siehe hierzu auch das gleichnamige Buch des U.S.-amerikanischen Theologen D.A. Carson).            

These 2: Für ein friedliches Zusammenleben von Christen und Muslimen bedarf es (zumindest aus christlicher Perspektive) keiner theologischen Harmonisierung.

Das GP legt zumindest indirekt nahe, dass der gesellschaftliche Frieden insbesondere zwischen Christen und Muslimen von einer theologischen Harmonisierung ihrer Glaubensüberzeugungen oder zumindest von der Feststellung abhängt, an denselben Gott zu glauben.Das erscheint mir allerdings – unabhängig von der Frage, wie man das Verbindende und Trennende zwischen dem christlichen und dem islamischen Glauben jeweils gewichtet – als ein fataler Fehlschluss. Das friedliche Zusammenleben mit Muslimen hängt für Christen keineswegs von theologischen Harmonisierungen ab. Ein würde- und respektvoller Umgang mit Muslimen ergibt sich bereits aus der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen und dem Gebot Jesu aus Matthäus 7,12, den anderen so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten. Andernfalls müsste man fragen, wie Christen mit jenen weltanschaulichen Gruppen friedlich zusammenleben können, mit denen sich (noch) weniger Gemeinsamkeiten theologischer Art finden lassen.

Angesichts mehrfacher und grundsätzlich begrüßenswerter Aufrufe zum gemeinsamen Einsatz von Christen und Muslimen für den Frieden (u.a. 5, 6, 8, 43, 56, 61) gilt es viel deutlicher festzuhalten, dass der Frieden vor allem dort gefährdet ist, wo Menschen unterschiedlichen Glaubens Gewalt, Zwang oder Manipulation als mögliche Mittel weltanschaulicher Auseinandersetzungen betrachten. Wo immer dies geschieht, sollten die Kirche diese Haltung verurteilen (ob in den eigenen Reihen oder in anderen religiösen und gesellschaftlichen Gruppierungen), aber nicht aus Angst vor einem gewissen Gewaltpotenzial einzelner Muslime oder militanter Gruppen den eigenen Auftrag zur friedlichen Verkündigung des Evangeliums relativieren. Ein derartiges Vorgehen würde der Logik der Gewalt und der Einschüchterung folgen und gerade vor denen kapitulieren, die das friedliche Zusammenleben und den konstruktiven Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen am stärksten gefährden.  

These 3: Es ist von Anfang nicht klar, welcher Islam Gegenstand des Vergleichs sein soll und mit welchen islamischen Gruppen man den Dialog führen möchte.

Das GP erklärt einleitend, dass man nicht in der Lage sei, auch nur annähernd „die Vielgestaltigkeit und Pluralität muslimischen Glaubens zu erfassen“ (15). Dass eine umfassende Analyse nicht möglich ist, versteht sich von selbst. Aber in einem Papier, das die Sprachfähigkeit von Christen gegenüber Muslimen fördern will, wäre es durchaus notwendig, einen groben Überblick über das Spektrum islamischer Glaubensrichtungen und Organisationen ( v.a. in Deutschland) zu geben, das u.a. von salafistischen Muslimen, die sich konsequent an den Wortlaut der islamischen Quellen und am Vorbild der „frommen Altvorderen“ orientieren wollen, über die traditionell-konservativen Moscheeverbände bis hin zu verschiedenen Initiativen und Zusammenschlüssen säkularer und liberaler Muslime reicht, die eine mehr oder weniger weitreichende historisch-kritische Relativierung des politischen und militanten Erbe Mohammeds und entsprechender Koranverse und Hadithe einfordern. In einer groben Darstellung müssten auch einige kurze und prägnante Informationen zu Unterschieden zwischen Sunniten und Schiiten, zur Bedeutung sufischer Bruderschaften und zum im Westen häufig unterschätzen Phänomen volkislamischer Vorstellungen und Praktiken sowie zur Einordnung von Sondergruppen wie den Aleviten oder der gerade im interreligiösen Dialog, aber auch im Bereich islamischer Mission sehr aktiven Gruppe der Ahmadiyya gegeben werden.    

Die fehlende Klarheit und Differenzierung bzgl. des Islamverständnisses, von dem man bei der Frage des Vergleichs und der eigenen theologischen „Wegbestimmung“ ausgehen möchte, ist auch insofern problematisch, weil damit völlig ungeklärt ist, welcher Auslegungstradition man in der eigenen Darstellung des islamischen Glaubens (z.B. bei der Beschreibung des islamischen Offenbarungsverständnisses auf den Seiten 19-22) folgt. Es scheint, dass man an einigen für Vergleich und Begegnung sehr entscheidenden Stellen gern allgemein von begrüßenswerten zeitgenössischen Ansätzen spricht (oder auch stillschweigend auf diese Bezug nimmt), den persönlichen Zugang zur Bibel recht eigenwillig auf die etablierte islamische Theologe überträgt und in den koranischen Text hineinliest und zugleich anderes ausblendet, was in vorherrschenden Auslegungen muslimischer Theologen durchaus von zentraler Bedeutung ist. Zum Beispiel wollen die Verfasser des GP genau wissen, wie die Gewalt legitimierenden Verse aus Sure 2,190-191 richtig zu verstehen sind und wie nicht. Ein Bezug zu einschlägigen Kommentaren oder zumindest anerkannten islamwissenschaftlichen Sekundärquellen gibt es nicht.   

Das GP will die Gesprächspartner nicht vorab zu definieren versuchen und setzt auf ein „Bündnis der Willigen“ (15). Sollten jedoch, wie die Ausführungen im praktischen Teil nahelegen, vor allem die örtlichen Moscheevereine und damit in den meisten Fällen Vertreter der großen muslimischen Dachverbände im Blick sein, wäre es gut, einige Sätze zu deren inhaltlicher und struktureller Ausrichtung zu verlieren und dabei problematische Verflechtungen einzelner Verbände mit der staatlichen türkischen Religionsbehörde in Ankara oder über ihre Mitglieder mit islamistischen Organisationen nicht auszublenden.

These 4: Das GP suggeriert beim Offenbarungs- sowie jeweiligen Bibel- und Koranverständnis große Gemeinsamkeiten, die dem Selbstverständnis und der Struktur und Argumentation des Koran nicht gerecht werden.

Das GP projiziert eigene theologische Vorstellungen (und einen an vielen Stellen äußerst beliebigen, selektiven Umgang mit dem biblischen Zeugnis) vorschnell auf das islamische Koran- und Offenbarungsverständnis.

„Aus christlicher Perspektive ergeht Gottes Wort im Menschenwort. Auch nach islamischer Vorstellung geschieht die von Ewigkeit her gültige Gottesbotschaft im Medium der begrenzten menschlichen Einsichten. Christen und Muslime stehen im Blick auf ihre Heiligen Schriften in einem Spannungsfeld zwischen der unbedingten Geltung des göttlichen Wortes und seinem zeit- und situationsbedingten Verständnis damals und heute. Es bleibt eine Herausforderung, diese Spannung im Dialog miteinander zu thematisieren.“ (19)

Da sich in der islamischen Orthodoxie das Dogma von der Unerschaffenheit des Koran durchgesetzt hat, was das GP mit dem Verweis auf die „himmlische Urschrift“ zumindest andeutet, geht die vorherrschende islamische Theologie (trotz teils kontroverser Debatten über eindeutige und mehrdeutige Verse, feststehende Prinzipien und flexible im Licht gegenwärtiger Umstände und Notwendigkeiten auszulegender Bestimmungen) keineswegs davon aus, dass die „von Ewigkeit her gültige Gottesbotschaft im Medium der begrenzten menschlichen Einsichten“ geschieht. Es gibt freilich muslimische Denker, wie den ägyptischen Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, die versucht haben, den Koran als Dialog zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen zu lesen, aber sie mussten und müssen bis heute mit erheblichem Widerstand rechnen. Abu Zaid wurde von einem staatlichen Gericht als Häretiker verurteilt und zwangsgeschieden und musste in der Folge mit seiner Frau ins holländische Exil fliehen. Mahmud Taha, Gründer der Republikanischen Bruderschaft im Sudan, erklärte die frühen, mekkanischen Passagen des Koran zur Essenz der göttlichen Botschaft  und verstand die späten, diskriminierenden Bestimmungen aus der späten Zeit Mohammeds in Medina als fehlbare menschliche Umsetzung dieser göttlichen Prinzipien. Taha wurde in Rechtsgutachten der Islamischen Weltliga und der renommierten Al-Azhar Universität in Kairo der Apostasie beschuldigt und schließlich 1985 unter dem sudanesischen Präsidenten an-Numeiri hingerichtet. Neue Zugänge zum Koran sollten also angesprochen, aber gleichzeitig nicht verschwiegen werden, wie es denen ergeht, die solche reformorientierten Konzepte im öffentlichen Raum zur Sprache bringen. (siehe zum Koran auch die Hintergrundinformationen am Ende des Thesenpapiers!)    

These 5: Die Auslassung der islamischen Überlieferung und der klassisch-islamischen Auslegungstradition führt zu einem sehr subjektiven und verzerrten Blick auf die zentralen Inhalte „des Koran“ und „des Islam“.

Die Fokussierung auf den Koran – und innerhalb des Koran vornehmlich auf solche Verse, die aus Sicht der GP-Verfasser eine gewisse Überschneidung mit biblischen Aussagen nahelegen – bei gleichzeitiger Ausblendung der Sunna (15) wird dem traditionell-islamischen Glaubensverständnis nicht gerecht. Denn fromme Muslime sehen sich durch den Koran (in dem der Gehorsam gegenüber Mohammed mit dem Gehorsam gegenüber Allah gleichgesetzt wird) dazu aufgerufen, sich in ihrem gesamten Lebensvollzug möglichst konsequent an der Sunna, der Lebensweise bzw. Gewohnheit ihres Propheten, zu orientieren. Im Laufe der ersten Jahrhunderte nach seinem Tod sind daher umfangreiche Sammlungen so genannter Hadithe entstanden, von denen heute im sunnitischen Bereich sechs kanonische Sammlungen anerkannt sind. Vor allem die bei al-Bukhari und Muslim überlieferten Aussprüche hatten und haben einen gewaltigen Einfluss auf islamische Glaubens- und Rechtspraxis – und gelten nicht zuletzt neben der Biographie Mohammeds (Sira) als unverzichtbare Bezugsquelle für die klassische Chronologie, Auslegung und Anwendung einzelner Koranverse.

Die Hadithe entwickelten sich folglich zu einer dem Koran fast gleichgestellten Quelle, auch wenn der mit ihnen verbundene Offenbarungsanspruch nicht direkter, sondern abgeleiteter Natur war bzw. ist. Wie wichtig sie sind, zeigt unter anderem die Tatsache, dass sich die Pflicht zum fünfmal täglichen rituellen Gebet nicht im Koran, sondern in den Hadithen findet. Gleiches gilt für die im klassischen Schariarecht vorgesehene Steinigung bei Ehebruch oder ausdrückliche Anweisungen Muhammads, den zu töten, der seine Religion wechselt. Neben der Sunna ignoriert das GP auch die gesamte rechtswissenschaftliche Tradition der großen Rechtsschulen, die bei Auslegung und Anwendung der islamischen Quellen im Rahmen des alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche umfassenden Schariarechts eine zentrale Rolle spielen und über die Moscheegemeinden und Fatwa-Datenbänke im Internet auch eine prägende Wirkung auf den frommen Teil der muslimischen Minderheiten in westlichen Ländern haben. Fundierte Aussagen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ethischen Fragen der Gerechtigkeit in den sozialen Beziehungen sind bei Ausblendung dieser Quellen nicht wirklich möglich. 

These 6: Das GP verwechselt Mehr- und Minderheitsmeinungen und beschreibt an vielen Stellen eher ein Wunschbild Islam statt die real vorhanden6n Verhältnisse.

Es wird an manchen für Fragen des Vergleichs und der Begegnung sehr relevanten Stellen wiederholt allgemein von (etlichen) zeitgenössischen Auslegern (19f., 32, 34) gesprochen, die neue Ansätze verfolgen, ohne dass offengelegt wird, wie das traditionelle und bis heute oft noch im innerislamischen Diskurs der Rechtsschulen vorherrschende Verständnis ist. Immer wieder kommen Wünsche der Verfasser zum Ausdruck, wie Muslime hoffentlich zukünftig ihren Glauben verstehen und oder wie einschlägige Aussagen z.B. zur Gewalt aus Sicht der GP-Verfasser (nicht) zu lesen sind. Hier führt die Ausblendung der Überlieferung und der rechtswissenschaftlichen Tradition zu einer sehr verzerrten Wahrnehmung der gegenwärtigen Kräfteverhältnisse im innerislamischen Diskurs. Ein Gesprächspapier, das zur Begegnung mit dem heute real geglaubten und gelebten Islam vorbereiten möchte, sollte potenziellen Gesprächspartnern natürlich nicht von vorneherein unterstellen, die in ihren Herkunftsländern dominierenden Auslegungen zu vertreten, darf sich aber auch nicht im Wunschdenken verlieren, sondern muss klarer benennen, welche Auslegungen derzeit Randpositionen sind und welche den Diskurs stark dominieren. Diese Unterscheidungen und Gewichtungen sucht man an vielen Stellen des GP vergeblich.    

Es ist natürlich verständlich, dass das GP Ansätze einer „Theologie der Barmherzigkeit“, wie sie der Münsteraner Soziologe und Religionswissenschaftler Mouhanad Khorchide vorgelegt hat, positiv wahrnimmt und sich gerne wiederholt auf die von ihm vorgelegte Neuinterpretation des Koran bezieht (u.a. 29). Aber es erscheint äußerst beschönigend, wenn dann nur kurz bemerkt wird, dass sein Ansatz sicherlich nicht unumstritten sei. Tatsächlich ist Khorchide von salafistischen Gruppen des Abfalls beschuldigt worden, hat Morddrohungen erhalten und musste zeitweise unter Polizeischutz leben. Die großen vier im Koordinationsrat der Muslime (KRM) zusammengeschlossenen islamischen Dachverbände haben nach dem Erscheinen seines Buches zur Barmherzigkeit (letztlich vergeblich) seine Absetzung als Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster gefordert und ihm in einem eigenen Gutachten u.a. eigenwillige Übersetzungen und Auslegungen der für seine Thesen zentralen Verse und eine unreflektierte Übernahme christlicher Terminologie vorgeworfen. Gerade weil es voraussichtlich diese Moscheeverbände sind, mit denen die meisten Kirchengemeinden am häufigsten den Dialog suchen, erscheint es problematisch, Thesen wie die von Khorchide zum Ausgangspunkt eines Vergleichs zu nehmen, ohne sich gleichzeitig auch konstruktiv-kritisch mit der scharfen Kritik der Verbände auseinanderzusetzen.

These 7: Das GP ignoriert in seiner gesamten Argumentation die für die Koranauslegung maßgebliche Unterscheidung verschiedener Lebensphasen Mohammeds sowie die in späten Suren deutlich erkennbare Verknüpfung eines absoluten Wahrheits- mit einem weltlichen Machtanspruch.

Die Harmonisierungsversuche des GP im Blick auf christliche und islamische Grundaussagen insbesondere durch die unreflektierte Bejahung des islamischen Dogmas der „Einzigkeit“ und die damit einhergehende Relativierung der Trinität (22ff.), offenbaren eine große Naivität im Blick auf das islamische Selbstverständnis. Während sich Mohammed zu Beginn seiner Verkündigung in Mekka hauptsächlich gegen die arabischen Polytheisten richtet und die Gemeinsamkeiten mit den so genannten Buchbesitzern (Juden und Christen) betont, wendet sich das Blatt mit seiner Auswanderung nach Medina, wo er nicht nur zum religiösen Anführer, sondern auch zum Gesetzgeber, Richter und Feldherr der muslimischen Gemeinschaft wird. Der Ton gegenüber den Christen und Juden, die mehrheitlich Mohammed nicht als Propheten anerkennen, verschärft sich in dieser Zeit. Die Entwicklung gipfelt schließlich in mehreren Feldzügen gegen die jüdischen Stämme von Medina, einem deutlichen Aufruf zur Abgrenzung von Juden und Christen (Sure 5,51) sowie der Anordnung, die Buchbesitzer im Kampf zu unterwerfen (Suren 9,29). Im innerislamischen Diskurs gab es freilich schon früh Stimmen, die darin keinen Aufruf zur Bekämpfung aller Juden und Christen aller Orten und Zeiten sehen und die Verse in ihrer Anwendbarkeit mit Blick auf ihren koranischen und historischen Kontext zumindest einschränken wollten. Gleichzeitig gilt es nüchtern wahrzunehmen, dass solche und andere Verse und das Prinzip der so genannten Abrogation – gemeint ist in diesem Zusammenhang die Aufhebung früherer, oft friedfertiger Aussagen durch spätere Gewalt legitimierende Verse – in der islamischen Geschichte (durch die Kalifen) und in der Gegenwart (durch militante Islamisten) zur Legitimation von Expansions- und Unterwerfungsbestrebungen herangezogen wurden. Die scharfe Polemik des Korans gegen die Juden kann darüber hinaus auch beim vom GP angesprochenen Phänomen des Antisemitismus unter Muslimen (59) eine legitimierende oder verstärkende Rolle spielen, wenn sie insbesondere, aber keineswegs ausschließlich im Blick auf den ungelösten Nahostkonflikt mit antijüdischen Vorurteilen und Verschwörungstheorien des europäischen Antisemitismus verbunden wird.

Der Islam erscheint in den späten Koranversen als „Religion (eines muslimischen) Ibrahaims/Abrahams“, als reine und unverfälschte Form des Monotheismus, als wahre Ur- und Endreligion des Menschen, der Allah nach Sure 9,33 zum Sieg über jede andere Religion verhelfen wird. Entsprechend gilt Mohammed im Islam als „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40) und die Muslime als die „beste Gemeinschaft, die auf Erden entstanden ist“, weil „sie gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist und glaubt an Allah“ (Sure 3,110). Die oben genannten biblischen Personen – vor allem Abraham – erscheinen im Koran als paradigmatische Muslime und Vorläufer Mohammeds, die stets nur zur Unterwerfung unter den einen Gott aufgerufen und selbst gebetet, gefastet und weitere rituelle und soziale Pflichten des später von Mohammed verkündeten Islams erfüllt haben.

Aus den genannten und weiteren Versen und ähnlich ausgerichteten Hadithen haben muslimische Rechtsgelehrte eine Dreiteilung (Muslime-Schriftbesitzer-Heiden) abgeleitet, nach der Muslime über den Juden und Christen als „Leute des Buches“ bzw. „Schriftbesitzer“ stehen, die dazu aufgerufen wurden, den Islam anzunehmen oder sich ihm zu unterwerfen, was vor allem bedeutete, dass sie Kopfsteuer (jizya) entrichten, auf eine öffentliche Darstellung ihres Glaubens und missionarische Gespräche mit Muslimen verzichten und auch in anderer Weise ihre Unterwürfigkeit gegenüber Muslimen zum Ausdruck bringen sollten. Die Privilegierung der muslimischen Gemeinschaft im öffentlichen Raum hat sich bis heute in muslimischen Mehrheitsgesellschaften gehalten. Einschränkungen der Glaubens- und Meinungsfreiheit wurden sogar durch die Reislamisierungs-Bewegung in den letzten Jahrzehnten in manchen Ländern noch verstärkt – v.a. durch entsprechende Blasphemie- und Apostasie-Gesetzgebungen. Solche Hintergründe zu kennen und in aller Sachlichkeit auch ins Gespräch zu bringen, erscheint dringend notwendig, wenn man es mit dem viel beschworenen Einsatz für Gerechtigkeit ernst meint. Denn letztere wird im vorherrschenden islamrechtlichen Diskurs keineswegs im Widerspruch zur ungleichen Behandlung von Muslimen und Nicht-Muslimen sowie Männern und Frauen im öffentlichen Raum gesehen. 

These 8: Das GP überschätzt die positiven Aussagen zu Isa (Jesus) und verkennt seine durchgehende Islamisierung im Koran.

Es erscheint vor diesem Hintergrund auch problematisch, dass das GP Christen dazu aufruft, freudig über die Hochschätzung Jesu im Koran zu staunen (27). Natürlich gibt es dort zahlreiche interessante Anknüpfungspunkte für das vertiefende Gespräch, wenn Jesus beispielsweise im Unterschied zu allen anderen Propheten – auch zu Mohammed – als sündlos beschreiben wird, Tote auferweckt, Blinde und Taube heilt und als Wort und Geist von Gott bezeichnet wird. Allerdings leugnet derselbe Koran eben ganz zentrale christliche Glaubensüberzeugungen wie die Selbstoffenbarung Gottes in Christus und die Selbsthingabe Jesu als Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29). Damit ist Muslimen der Blick auf Jesus als Erlöser von der Macht der Sünde und des Todes verstellt. Gerade darin liegt aber doch eigentlich die vom GP erwähnte „befreiende, heilende, ermutigende und tröstende Kraft des Evangeliums“ (14). Oder begreifen die GP-Verfasser all dies nur als Bilder und Metaphern, die für Christen „Wahrheit“ sind und für andere eben nicht? 

Das GP verkennt in jedem Fall, dass eben auch Jesus im Koran ganz und gar dem islamischen Paradigma angepasst wird, dargestellt als ein Muslim, Vorläufer und Ankündiger Mohammeds, der gebetet und gefastet hat, aber eben nicht als gekreuzigter und auferstandener Sohn Gottes und einziger Weg zum Vater im Himmel. Wenn im Koran vom Evangelium (injil) oder auch von der Thora oder den Psalmen Davids die Rede ist, dann geht es eben nicht um die von Christen heute gelesene Bibel und das christliche Selbstverständnis – nicht darum, dass sich Gott selbst und die Tiefe seiner Liebe in Christus offenbart, um zu suchen und zu retten, was verloren ist, sondern lediglich um dieselbe Botschaft der Rechtleitung schwacher, aber grundsätzlich zum Guten fähiger Menschen, wie sie später auch Mohammed verkündigt hat.  

These 9: Das GP zieht theologisch zweifelhafte Schlussfolgerungen aus der Zentralität der Liebe Gottes in der Bibel und verkennt fundamentale Unterschiede zum Koran.

Es erscheint schwer nachvollziehbar und geradezu tragisch, dass das GP gerade aus der Grenzen überschreitenden Liebe Gottes in Christus (42) offensichtlich den Schluss zieht, das Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Christus in seiner universalen Gültigkeit relativeren zu können. Ganz grundlegende Unterschiede im Verständnis der Liebe Gottes kommen im GP nicht wirklich zur Sprache, weil sie dem selbstauferlegten Zwang zu möglichst weitreichender Konvergenz zuwiderlaufen.

In der Bibel erscheint die Liebe Gottes tatsächlich als Motor seiner Heilsgeschichte mit den Menschen. Dass sie allen Menschen gilt und gerade nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt ist und Menschen bereits gegolten hat, als sie noch Sünder waren (Röm 5,8), ist eine der zentralen und eben auch im Vergleich zum Islam einzigartigen Aussagen des Evangeliums. Es ist ja gerade die Liebe, die Gott dazu bewegt, seinen Sohn zu senden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht. (Joh 3,16). Diese Liebe gilt gerade den Sündern, denen, die nicht liebenswürdig sind. Davon zeugt das ganze Leben Jesu, all seine Beziehungen und Gespräche und nicht zuletzt sein Gebot der Feindesliebe, die er selbst in vollkommener Weise bis zu seinem Tod am Kreuz gelebt und auch in der Bitte um Vergebung für seine Feinde praktiziert hat. In den Briefen bauen zwischenmenschliche Beziehungen auf dieser Erfahrung unverdienter, bedingungsloser Liebe auf, wenn es zum Beispiel bei Paulus in Epheser 4,32 heißt: „Seid aber zueinander gütig, mitleidig und vergebt einander, so wie auch Christus euch vergeben hat.“ Indem wir anderen vergeben, antworten wir auf die Vergebung, die wir selbst bereits in Christus erfahren haben.    

Während es nun in Sure 3,31 heißt „Sag: Wenn ihr Allah liebt, dann folgt mir [Mohammed], damit auch Allah euch liebt und euch eure Schuld vergibt.“ und damit Allahs Liebe in gewissem Maße von menschlicher Vorleistung und Liebenswürdigkeit abhängig gemacht wird, dann wird doch ein großer Kontrast zu Aussagen deutlich, wie sie sich u.a. im ersten Johannesbrief finden: „Hierin ist die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden.“ Sicher ist in diesem Vers einiges sehr erklärungsbedürftig für Muslime – die Vaterschaft Gottes, die Sohnschaft Jesu, die Menschwerdung Jesu und schließlich die Notwendigkeit eines Sühneopfers. Aber damit sind eben ganz zentrale Aspekte des christlichen Glaubens und der entscheidende Grund christlicher Hoffnung gerade auch im Blick auf den von vielen Muslimen gefürchteten Tod und die damit eng verbundene Frage nach dem Ausgang des göttlichen Gerichts für den einzelnen Menschen angesprochen. Nur wenn wir hier das ehrliche, offene und tiefgehende Gespräch über unser Verständnis von Schuld und Sünde, von Vergebung und Buße, von Heil und Heilsgewissheit suchen, gibt es echte Begegnung. Wenn wir genau das dauerhaft ausblenden oder umschiffen, droht der Austausch zum unfruchtbaren Schaudialog zu verkommen, der die interreligiöse Begegnung nur noch als Mittel zum Zweck des gesellschaftlichen Friedens begreift und dabei weder den eigenen noch den Glauben des anderen wirklich ernst nehmen und kennen lernen will.

These 10: Die mehrfach gelobte Dialoginitiative der 138 muslimischen Gelehrten ist vor allem ein Aufruf an Christen, ihren Glauben selbst zu islamisieren.

Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Thesen gilt es auch den im GP zweimal (8 und 36 im Abschnitt über gemeinsame ethische Leitlinien und „Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Summe der Gebote“) erwähnten Brief von 138 muslimischen Gelehrten an christliche Kirchenführer weltweit („Ein Wort, das uns und euch gemeinsam ist“ bzw. „Common Word“) kritisch zu hinterfragen. Das GP führt aus, dass hier „mit ganzer Emphase auf das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als einigendes Band zwischen Juden, Christen und Muslimen verwiesen“ werde und zitiert dann die Verfasser, die von in keiner Weise zu verniedlichenden formalen Unterschieden zwischen den Religionen sprechen, aber die beiden obersten Gebote als verbindende und der Einheit Gottes entspringende Gemeinsamkeit deuten (36).

Hier muss man beachten, dass Dreh- und Angelpunkt des Aufrufs Sure 3,64 ist,

„Sag: Ihr Leute der Schrift! Kommt her zu einem Wort des Ausgleichs (ilaa kalimatin sawaa’in) zwischen uns und euch! (Einigen wir uns darauf) daß wir Allah allein dienen und ihm nichts (als Teilhaber an seiner Göttlichkeit) beigesellen, und daß wir (Menschen) uns nicht untereinander an Allahs Statt zu Herren nehmen. Wenn sie sich aber abwenden, dann sagt: „Bezeugt, daß wir (Allah) ergeben (muslim) sind!““

ein Vers, der von den maßgeblichen Auslegern der formativen und der klassischen Perioden des Islam übereinstimmend als polemische Abgrenzung von christlichen Grundüberzeugungen (insbesondere von der Trinität und der Gottessohnschaft Jesu) verstanden wurde. Diese Intention der Abgrenzung wird auch deutlich, wenn man in der Sure ein paar Verse weiterliest: „Abraham war weder Jude noch Christ. Er war vielmehr ein (Allah) ergebener Hanif [Gottsucher], und kein Heide.“ (Sure 3,67) In manchen Überlieferungen und Kommentaren erscheint Vers 64 auch als Teil eines obligatorischen Aufrufs bzw. einer Einladung (da’wa) zur Annahme des Islam, die Muhammad unter anderem an den damaligen byzantinischen Kaiser Heraclius geschickt haben soll.   

Hinzu kommt, dass der Koran kein der Bibel vergleichbares ausdrückliches Doppelgebot der Liebe kennt. Der koranische Text (Sure 112), den die muslimischen Gelehrten in ihrem Brief den biblischen Texten (5. Mose 6,4 und Markus 12,29) zur Seite stellen, erwähnt weder die Liebe Gottes zu den Menschen noch die Liebe der Menschen zu Gott oder die innerislamische oder allgemein zwischenmenschliche Liebe, sondern betont lediglich das islamische Verständnis der Einsheit bzw. Einzigkeit Allahs und ist in der islamischen Auslegungstradition schon früh nicht nur als Abgrenzung vom Polytheismus der vorislamischen Araber verstanden sondern (wie Sure 3,64) auch als Zurückweisung des trinitarischen Glaubens der Christen und ihrer Überzeugung von der Gottessohnschaft Jesu ausgelegt worden. Der Brief suggeriert, dass der Weltfriede vom Frieden zwischen den großen monotheistischen Religionen abhängt und diese wiederum von einer Einigung auf einen gemeinsamen theologischen Grundbestand. Dieser Versuch der Harmonisierung läuft aber in dem Brief eindeutig auf eine subtile Aufforderung zur (Selbst-)Islamisierung des christlichen Glaubens hinaus, in der zentrale Inhalte zu „formalen Unterschieden“ degradiert werden. Offensichtlich wird das von den Verfassern des GP nicht durchschaut.     

These 11: Die freimachende Kraft des Evangeliums kommt im GP nur unzureichend zur Sprache, während gleichzeitig das Verhältnis von Glauben und Werken im koranischen Denken über das bevorstehende Gericht nicht angemessen erfasst wird.  (32ff.)

Auf Seite 32 heißt es: „Als evangelische Christen sind wir dankbar für die befreiende Botschaft der Rechtfertigung des Sünders allein durch Gottes Gnade, wie sie gerade die reformatorische Theologie zum Leuchten gebracht hat und zugleich achten wir die Ernsthaftigkeit, mit der Muslime auf die Pflicht zur Rechenschaft für unser Handeln vor Gott verweisen.“ (32) Man fragt sich, warum hier nur konkret benannt wird, was Christen möglicherweise von Muslimen lernen können, während keine Ermutigung zu finden ist, die freimachende – im GP nur verkürzt wiedergegebene – Botschaft von Römer 3,23 (s.u.) auch mit Muslimen zu teilen. Die Einzigartigkeit des Evangeliums wird einem deutlicher, wenn man bedenkt, dass es bei aller vom GP hervorgehobenen Betonung der Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Allahs zu den wesentlichen Denkvoraussetzungen des islamischen Glaubens gehört, dass derjenige, der glaubt und gute Werke tut bzw. rechtschaffen lebt, Hoffnung auf die Vergebung Allahs haben kann. Als Beleg dafür seien an dieser Stelle vier einschlägige Verse genannt:

Sure 7,42: „Diejenigen, die glauben und die guten Werke tun – Wir fordern von einem jeden nur das, was er vermag –, das sind die Gefährten des Paradieses; darin werden sie ewig weilen.“

Sure 23,102-103: „Diejenigen, deren Waagschalen schwer sind, das sind die, denen es wohl ergeht. 103 Und diejenigen, deren Waagschalen leicht sind, das sind die, die sich selbst verloren haben; in der Hölle werden sie ewig weilen.“  

Sure 13,20-23: „Diejenigen, die den Bund Gottes halten und die Verpflichtung nicht brechen, und die verbinden, was Gott zu verbinden befohlen hat, ihren Herrn fürchten und Angst vor einer bösen Abrechnung haben, 22 und die geduldig sind in der Suche nach dem Antlitz ihres Herrn, das Gebet verrichten und von dem, was Wir ihnen beschert haben, geheim und offen spenden, und das Böse mit dem Guten abwehren, diese werden die jenseitige Wohnung erhalten […]“

Sure 9,111 [von Dschihadisten häufig im Kontext von Selbstmordattentaten als einzig sicherer und direkter Weg ins Paradies zitierter Vers]: „Gott hat den Gläubigen ihre eigene Person und ihr Vermögen dafür erkauft, dass ihnen das Paradies gehört, insofern sie auf dem Weg Gottes kämpfen und so töten oder getötet werden. Das ist ein Ihm obliegendes Versprechen in Wahrheit in der Tora und im Evangelium [???] und im Koran. Und wer hält seine Abmachung treuer ein als Gott?“

Das GP bringt nun im eigenen Vergleich viel zu wenig die befreiende Kraft des Evangeliums zum Ausdruck, wie sie u.a. in den beiden folgenden Bibeltexten deutlich wird: 

Epheser 2,8-10: „Denn aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme. Denn wir sind sein Gebilde, in Christus Jesus geschaffen zu guten Werken, die Gott vorher bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen.“

Römer 3,23f.: „denn alle haben gesündigt und erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.“

Freilich ist die christlich-muslimische Begegnung tatsächlich eine Anfrage an unser geistliches Leben. Mit Bonhoeffer könnte man fragen, ob wir möglicherweise in der Gefahr stehen, die Rechtfertigung des Sünders mit der Rechtfertigung der Sünde zu verwechseln und anstelle der „teuren Gnade“ nur noch eine „billige Gnade“ zu predigen, die wir mit uns selbst haben und bei der wir nicht mehr im Blick haben, dass sie Gott seinen Sohn gekostet hat und dass sie daher auch uns zu einem ganz neuen Leben in der Nachfolge Jesu ruft. Es geht ganz konkret an unsere Antwort auf die unverdiente Erlösung und freimachende Gnade Gottes in Christus. Der Epheser-Text spricht ja von Werken, die aber gerade in reformatorischer Perspektive nicht Voraussetzung, sondern Folge bzw. Frucht des rettenden Glaubens sind. Warum wird das im Vergleich mit dem Islam im GP nicht klarer herausgestellt? Die ständige Suche nach dem Gemeinsamen verstellt auch hier den Blick für die tiefgreifenden Unterschiede und damit für das, was die Begegnung und den Austausch mit Muslimen in der Wahrheit und Liebe Christi erst richtig tief und fruchtbar machen würde.    

These 12: Die Unterschiede zwischen Jesus und Mohammed sind tiefgreifender, als es das GP suggeriert.

Eine Tendenz zur Selbstrelativierung und Islamisierung des christlichen Glaubens zeigt sich auch in einem Abschnitt, in dem es um Jesus und Mohammed geht:

„viel zu entdecken wird es geben für Christen und Muslime unterwegs im Gespräch über Jesus und Mohammed, lehrend und wirkend im Namen Gottes des Allerbarmers. Bei aller Unvergleichbarkeit und Asymmetrie dieser beiden im Blick auf die jeweilige Glaubenswelt bei Christen und Muslimen ist doch festzuhalten: Jesus und Mohammed können in je eigener Weise als zeichenhafte Vergegenwärtigung der Barmherzigkeit Gottes verstanden werden.“ (28)

Dieser Absatz erscheint typisch für die Konvergenz-Hermeneutik des GP. Der Schwerpunkt liegt auch hier auf vermeintlichen Gemeinsamkeiten, wie sie unkritisch der koranischen Darstellung Mohammeds und Jesu als Barmherzigkeit entnommen werden. Unterschiede werden zwar kurz erwähnt („Bei aller Unvergleichbarkeit und Asymmetrie…“), aber dann nicht konkretisiert und zu Ende gedacht – ganz offensichtlich, um keine Zweifel an der These aufkommen zu lassen, dass beide „im Namen Gottes des Allerbarmers“ gelehrt und gewirkt haben. Dabei sind, wenn man die grundlegenden Quellen beider Religionen zu Rate zieht, die Unterschiede zwischen beiden in zentralen Bereichen ihrer Lehre und ihres Lebens enorm groß (siehe hierzu u.a. Bernie Powers, Jesus and Mohammed. What the ancient texts say about them, Bible Society Australia, 2015). Das betrifft u.a. Mohammeds in der islamischen Überlieferung vielfach belegten Anspruch auf Durchsetzung eines weltlichen und ganz persönlichen Machtanspruchs einschließlich der Bereitschaft, Kritiker und Spötter notfalls mit Gewalt zum Schweigen zu bringen. Ein solches Verhalten steht im starken Kontrast zum Verzicht Jesu auf „ein Reich in dieser Welt“, seine Zurückweisung von Petrus bei dessen Versuch einer gewaltsamen Verteidigung Jesu und sein Gebet für seine Henker und die Spötter um Kreuz.

These 13: Das GP blendet die Perspektive von Konvertiten völlig aus. 

Ein weiteres großes Defizit des GP besteht darin, dass es Religionswechselfreiheit zwar ausdrücklich einfordert (38-41), aber sich in keinem einzigen Satz mit dem heute in vielen Teilen der islamischen Welt zunehmenden Interesse vieler Muslime am christlichen Glauben befasst. Damit werden auch die bewegenden Geschichten und wertvollen Perspektiven jener Menschen muslimischen Hintergrunds komplett ausgeblendet, die oft trotz erheblicher sozialer Nachteile, schwerwiegender zivil- oder sogar strafrechtlicher Konsequenzen für den christlichen Glauben entscheiden.

Eine intensivere Beschäftigung mit Konversion und der Situation der Konvertiten wäre auch angesichts der Tatsache geboten, dass vor allem iranische und afghanische Flüchtlinge in den letzten Jahren Kontakt zu Kirchengemeinden aufgenommen, Glaubenskurse absolviert und nicht wenige sich auch haben taufen lassen. Einige von ihnen haben ihre Glaubensreise, manche auch ihre darin eingeschlossene Leidensgeschichte in Interviews und Büchern näher beschrieben. Sich in einem solchen GP auch mit ihrer Perspektive, ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen des christlichen Glaubens zu beschäftigen, hieße, sich auch mal mit der Anziehungs- und nicht nur mit der „Anstößigkeit“ des eigenen Glaubens aus muslimischer Perspektiven zu befassen und zugleich Herausforderungen anzusprechen, vor denen die Gemeinden bereits stehen, wenn sie solche Konvertiten auf ihrem weiteren Glaubens- und Lebensweg begleiten möchten.

These 14: Das GP schweigt über die schwerwiegenden Folgen des Abfalls vom muslimischen Glauben.

Im Abschnitt über die unterschiedlichen Dimensionen und geistigen Grundlagen der Religionsfreiheit fehlt eine klare Stellungnahme zu islamischen Apostasiegesetzen. Es wird angesichts gerade in jüngster Zeit stark zunehmender Christenverfolgung in muslimischen Mehrheitsgesellschaften und schwerer und vielfältiger Bedrohungen von Muslimen, die zum christlichen Glauben übergetreten sind, nicht deutlich genug hervorgehoben, dass alle Rechtsschulen im Islam bis heute den öffentlich erkennbaren Abfall vom Glauben (sprich: auch die Konversion zum christlichen Glauben) mit dem Tod bedrohen – meist mit Berufung auf eine Überlieferung, nach der Mohammed angeordnet haben soll, denjenigen zu töten, der seine Religion wechselt. Selbst im Westen lange Zeit als gemäßigt geltende Gelehrte, die gerne betonen, dass der Islam durchaus Religionsfreiheit kenne und der sich ausschließlich im Kopf des Einzelnen abspielende Abfall nicht strafrechtlich verfolgt werden solle [im Übrigen auch nur schwer verfolgt werden kann], halten daran fest, dass ein Muslim, der seine Zweifel am Islam oder seine neuen Überzeugungen von einer anderen Religion oder Weltanschauung kundtut, die muslimische Gemeinschaft oder den Staat verrate, was einem politischen Verbrechen gleichkomme und auch im Westen schwere Strafen nach sich ziehen könne.

Natürlich gibt es, wie das GP mit dem Verweis auf Sure 2,256 („Es gibt keinen Zwang in der Religion“) nahezulegen versucht, vereinzelt in der islamischen Welt und etwas zahlreicher auch in westlichen Ländern muslimische Theologen, die eine volle Religionsfreiheit einschließlich einer Konversion bejahen und die problematischen Verse und Hadithe anders auslegen und im Lichte eines generellen Zwangsverbots relativieren. Eine realistische Bestandsaufnahme darf aber nicht ausblenden, dass es sich leider nach wie vor um eine Randposition handelt, die zudem voraussetzt, dass der Islam seine über Jahrhunderte gewachsene und bereits in Mohammeds eigenem Lebenslauf angelegte Verknüpfung von religiöser Verkündigung und politischer Macht aufgibt und sich auch in den eigenen Ländern dem freien Wettbewerb der Religionen und Weltanschauungen stellt und beispielsweise friedliche Formen nicht-islamischer Mission nicht länger als Störung der öffentlichen Ordnung kriminalisiert. 

Das GP spricht mehrfach vom notwendigen Mut und gegenseitiger Zumutung kritischer Fragen. Konkret würde das bei dem hier angesprochenen Problem bedeuten, in einem ehrlichen Dialog auch die Frage mutig anzusprechen, inwiefern muslimische Dachverbände in Deutschland Religionswechselfreiheit nicht nur unter den gegeben Mehrheitsverhältnissen dulden, sondern auch daran interessiert sind, innerhalb ihrer Moscheen und in ihrer Jugendarbeit für eine volle Religionsfreiheit und einen friedlichen „Wettbewerb“ der Religionen und Weltanschauungen einzustehen –  unabhängig von der Frage, ob sich Muslime in einem bestimmten Land gerade in der Mehr- oder Minderheit befinden. Die christlichen Kirchen könnten hier muslimischen Verantwortungsträgern begleitend und beratend zur Seite stehen – auch  weil sie sich selbst mit voller Religionsfreiheit sehr lange sehr schwergetan haben.   

These 15: Das GP unterschätzt die Mehrdimensionalität des Dschihad. 

Bei der Gewaltthematik drückt sich das GP sehr vorsichtig aus und ist eifrig bemüht, auch auf das Gewaltpotenzial biblischer Texte hinzuweisen. Dabei werden die erwähnten „Schwert-Verse“ zu wenig in den Gesamtzusammenhang des islamischen Dschihad-Konzeptes eingeordnet.

Der Dschihad als Anstrengung oder Einsatz „um Allahs willen“ (fi sabil allah) wird heute von muslimischen Gelehrten sehr vielfältig verstanden. In der Frühzeit und im Koran selbst dominiert die Vorstellung eines kämpferischen Einsatzes für die Verteidigung (ggf. auch Ausbreitung) der islamischen Gemeinschaft und ihrer als unantastbar verstandenen Werte wie des Koran und der Ehre ihres Propheten. Prägend für das klassische Dschihad-Konzept war die Vorstellung, dass es ein Haus bzw. Gebiet des Islam (dar al-islam) gibt, in dem islamische Werte- und Rechtsvorstellungen dominieren, und ein Haus bzw.  Gebiet des Unglaubens (dar al-kufr) bzw. des Krieges (dar al-harb), in dem noch die Glaubensvorstellungen und Rechtsbestimmungen der „Ungläubigen“ vorherrschen. Die Erwartung war, dass sich der Islam schrittweise ausdehnen und am Ende die ganze Welt umfassen werde. Im Laufe der Zeit und angesichts in Stocken geratener Expansionen entwickelte man eine dritte Kategorie – das „Haus des Vertrages“ bzw. „des Waffenstillstands“ (dar al-‚ahd bzw. al-sulh), in dem kein islamischer Friedenszustand, aber auch kein Krieg herrscht, weil Muslime ihren Glauben dort frei leben und verbreiten können. Die meisten Gelehrten ordnen westliche Gesellschaften in diese Kategorie ein, bleiben aber häufig ambivalent, wenn es um die nicht näher bestimmten Vertragsbedingungen geht – wann also möglicherweise westlichen Regierungen, Künstlern, Journalisten etc. aus islamischer Sicht eine Verletzung muslimischer Ehre und muslimischer Rechte und damit ein  Bruch des Waffenstillstands vorgeworfen werden könnte.         

Wenn muslimische Vereinigungen heute gerne den spirituellen Kampf gegen die Triebseele oder die Einflüsterungen Satans oder den gesellschaftlichen Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeit betonen, ist das als Gegenbewegung zu dschihadistischen Gruppen natürlich zu begrüßen, heißt aber nicht zwingend, dass sie sich damit grundsätzlich und langfristig von der kämpferischen Dimension distanziert haben. Man unterscheidet im vorherrschenden Diskurs vielmehr zwischen verschiedenen Formen und Stufen des Dschihad, deren Legitimität und Notwendigkeit auch von den jeweiligen regionalen Umständen, vorherrschenden Machtverhältnissen und wahrgenommenen Bedrohungen abhängt. Umso wichtiger ist es auch im Blick auf die Gewalt-Frage und den vom GP mehrfach geforderten gemeinsamen Einsatz für den Frieden (u.a. 43 und 56), Begriffe wie Verteidigung konkret zu definieren und von christlicher Seite deutlich zu machen, dass Gewalt niemals ein Mittel der weltanschaulichen Auseinandersetzung sein kann und Religionskritik, wenn sie in polemischer Weise religiöse Gefühle verletzt, selbstverständlich verbal kritisiert und mit sachlichen Gegenargumenten zurückgewiesen werden kann, aber auf keinen Fall als „Angriffsfall“ dargestellt werden darf, der Christen oder Muslimen ein Recht auf gewaltsamen „Widerstand“ gibt. Wer Letzteres tut, kann sich nicht mehr glaubwürdig vom islamistischen Terror distanzieren, sondern bereitet selbst den ideologischen Nährboden, auf dem der Terror gedeihen kann – liefert die Denkmuster, auf die sich andere berufen können, die dann zur Tat bzw. zur Waffe greifen.  

These 16: Die Ausführungen zum Verhältnis der Geschlechter sind beschwichtigend und lassen Schlüsselprobleme des klassischen Schariarechts unerwähnt.

Das GP wendet sich beim Thema Frauenrechte und Geschlechterrollen gegen eine Sicht, nach der eine diskriminierende Geschlechterhierarchie vom Koran festgeschrieben sei. Dabei würden „in unzulässiger Weise die Frage von faktisch vorhandenen kulturellen Praxen, die religiös legitimiert werden, mit der Frage nach der religiösen Normativität“ (32) vermischt.  So wichtig der Verweis auf liberalere, historisch-kritische Ansätze und ihre koranischen Begründungen ist, so verzerrend wird das Bild, wenn man gleichzeitig die traditionell bis heute vorherrschende Auslegung und die ihnen zugrunde liegenden Koranverse (und Überlieferungen) ausblendet. Würde man sie offen benennen, würde klar, dass in westlichen Augen problematische kulturelle Praxen durchaus von der Mehrheit muslimischer Gelehrter über Jahrhunderte mit dem Koran und der vom GP unberücksichtigt gelassenen Sunna religiös normiert worden sind.

Denn tatsächlich kennt das klassisch-islamische Eherecht keine Gleichberechtigung von Mann und Frau im diesseitigen-gesellschaftlichen Bereich. Man geht von gleicher Würde im religiösen Sinne, aber von unterschiedlichen Rollen und damit verbundenen Rechten und Pflichten aus. Demnach vertritt der Mann die Familie im öffentlichen Raum und ist für den Unterhalt der Familie zuständig. Die Frau schuldet ihm dafür Unterordnung und Gehorsam (laut Sure 2,223 auch im sexuellen Bereich). Diskriminierungen betreffen u.a. die (nur dem Mann erlaubte) Vielehe (die entgegen der Darstellung des GP keinesfalls in etlichen, sondern nach meinem Kenntnisstand lediglich in der Türkei, Tunesien und den zentralasiatischen Republiken verboten ist), die Wahl des Ehepartners (das GP selbst erwähnt, dass Musliminnen keine nichtmuslimischen Männer heiraten dürfen) das Sorgerecht und die traditionell sehr viel höheren Hürden für die Frau im Falle eines Scheidungsantrags. Vor Gericht entspricht nach klassisch-islamischem Recht die Zeugenaussage eines Mannes der Zeugenaussage zweier Frauen.

Eines der größten Probleme ist die religiös normierte Züchtigung der Frau. Während einige Koranverse wie der im GP ausführlich zitierte Vers in Sure 33,35 die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betonen, heißt es in der vom GP völlig ausgeblendeten Sure 3,34, dass die Männer eine Stufe über den Frauen stehen. Im Falle befürchteter Widerspenstigkeit soll der Mann seine Frau ermahnen, im Ehebett meiden oder (quasi als letzten Ausweg) schlagen. Muslimische Feministen und Apologeten versuchen diese Stelle zu entschärfen, indem sie auf das Vorbild Mohammeds verweisen, der seine Frauen niemals geschlagen haben soll, aber muslimische Gelehrte trauen sich in der Regel angesichts der angenommenen Vollkommenheit des Koran nicht, Züchtigung unter allen Umständen als moralisch verwerflich zu betrachten. Folglich mangelt es in den allermeisten islamischen Ländern an einem entsprechenden gesetzlichen Verbot. Vor diesem Hintergrund kann auch hier nicht einfach beschwichtigt werden, dass (die vom GP schlicht ausgeblendete) häusliche Gewalt lediglich ein Problem der kulturellen Praxis sei, die religiös nicht normiert sei.

Es ist traurig, dass das GP diese Problemfelder nicht klarer benennt, sondern lediglich mit schwammigen Formulierungen Gesprächsbedarf andeutet: „wird wohl weiterhin ein Dialog-Thema bleiben“ (32). Als Institut für Islamfragen bekommen wir häufiger Anfragen von Eltern, deren Töchter sich vorschnell und unüberlegt auf eine bi-religiöse Ehe eingelassen haben und dann plötzlich überrascht sind, wenn der Mann im Laufe der Ehe eine Intensivierung seines muslimischen Glaubens erlebt und traditionell-islamische Erwartungen an seine Frau stellt und auf eine im klassisch-islamischen Recht selbstverständliche islamische Erziehung der gemeinsamen Kinder besteht. Hier ist die Kirche in der Verantwortung, sachlich und an gebotener Stelle auch kritisch aufzuklären statt zu beschönigen und zu beschwichtigen. Im GP kommt sie dieser Aufgabe nicht ausreichend nach, auch wenn sie empfiehlt, die partnerschaftliche Entscheidung über die Religionszugehörigkeit der Kinder in den Ehevertrag zu schreiben.  

Wichtige Hintergrundinformationen, die im GP nur unzureichend zur Sprache kommen:

– Zu Anspruch und Struktur des Koran:

Muslime verstehen den Koran als das buchstäblich von Gott in arabischer Sprache durch den Erzengel Gabriel an Mohammed offenbarte Wort. Zugleich betrachtet man den arabischen Koran in seiner behaupteten Unnachahmlichkeit als einziges – oder zumindest größtes – Beglaubigungswunder Mohammeds. Folglich hat bis heute die Rezitation des arabischen Wortlauts in Moscheen und Koranschulen eine weitaus größere Bedeutung als die inhaltliche Reflexion in der eigenen Muttersprache. Aus orthodoxer Sicht kann es und darf es daher auch keine Übersetzungen des Koran geben – lediglich Annäherungen an seine ungefähre Bedeutung.

Für den christlichen Leser ist es gewöhnungsbedürftig, dass der Koran weder zeitlich noch inhaltlich bzw. thematisch gegliedert ist. Der Koran adaptiert zahlreiche biblische Personen und Begebenheiten, wie etwa Adam, Noah, Abraham, Mose, David und Jesus beziehungsweise die Schöpfung, den Sündenfall und die Sintflut. Dies geschieht allerdings in einer islamisierten Form und nicht selten als eine Art Spiegel für Mohammeds eigene Erfahrungen. Überhaupt ist der Koran ein eher geschichtsloses Werk. Erzväter, Könige und Propheten des Alten Testaments werden aus ihrem zeitlichen und örtlichen und vor allem aus ihrem heilsgeschichtlichen biblischen Kontext herausgelöst. Teilweise geraten die Zusammenhänge wohl auch deshalb durcheinander, weil Mohammed lediglich mündlich und fragmentarisch Kenntnis von der Bibel erhalten und darüber hinaus auch Inhalte aus rabbinischer Kommentarliteratur und apokryphen Schriften wie dem Thomas-Evangelium verarbeitet hat. Muslime zählen zwar die Thora, die Psalmen und das Evangelium (injil) zu den Büchern Allahs und die Christen und Juden zu den Buchbesitzern, gehen aber gleichzeitig mit Blick auf einige (keineswegs eindeutige) spätere Koranverse davon aus, dass die Bibel im Laufe der Zeit verfälscht und insbesondere Ankündigungen Mohammeds gestrichen worden seien. Frühere Aufforderungen des Koran (wie sie das GP erwähnt), bei Unklarheiten diejenigen zu fragen, die bereits eine Schrift erhalten haben (Sure 10,94), werden dadurch in den Augen der meisten Ausleger aufgehoben oder zumindest stark relativiert. Trotzdem gilt es zugleich festzuhalten, dass es bis heute auch viele Muslime gibt, die sehr offen und dankbar auf die christliche Weitergabe einer Bibel (oder Bibelteile) oder das Angebot eines gemeinsamen Lesens im Evangelium reagieren.  

– Zum Sündenverständnis:

Die vom GP erwähnte Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein ist enger als vom GP herausgestellt mit der Botschaft vom Kreuz verbunden und dem Gedanken des stellvertretenden Sühneopfers Jesu. Allerdings sucht man die für das Evangelium und die Christen im Blick auf den Grund ihrer Hoffnung zentralen Begriffe der „Sühne“ und des „Opfers“ sowie die in 2Kor 5 näher beschriebene Botschaft der Versöhnung im GP vergeblich. Um diese verständlich zu machen, gilt es auch, auf tiefgreifende Unterschiede im Sündenverständnis hinzuweisen. So frevelt der Mensch im Koran lediglich gegen sich selbst (u.a. Sure 7,23), während sich die Sünde in biblischer Perspektive gegen Gott selbst richtet. So betet David in seinem bekannten Bußpsalm: „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt und getan, was böse ist in deinen Augen“ (Psalm 51,6a). Der Sündenfall hat in der Bibel sehr viel dramatischere Konsequenzen. Der Mensch gilt seitdem als verloren und muss wiedergefunden, gerettet und versöhnt werden mit Gott. Auch David und Petrus werden schonungslos mit all ihren Licht- und Schattenseiten dargestellt. Im christlichen Verständnis ist das größte Problem des Menschen die Sünde im Singular – seine grundsätzliche Trennung von Gott, seine Zielverfehlung, sein Herzenszustand, aus dem alle anderen Sünden (im Plural) folgen. Dagegen liegt die Betonung im Islam stärker auf den Sünden (im Plural), kleinen und größeren Verfehlungen, die der Mensch aufgrund seiner inneren Schwachheit sowie negativer äußerer Einflüsse und satanischer Einflüsterungen begeht, aber die Allah (nach Ansicht mancher Ausleger mit Ausnahme besonders schwerer Sünden) allein aufgrund seiner Allmacht vergibt und die der Mensch nach vorherrschender Auslegung einschlägiger Stellen in einem gewissem Maße durch Buße und gute Werke ausgleichen kann. Als schwaches Geschöpf hat der Mensch primär ein Informationsdefizit, bedarf der Rechtleitung und Vergebung einzelner Sünden, aber nicht wie im christlichen Verständnis einer Erlösung im Sinne der Versöhnung und der Wiedergeburt zu einem völlig neuen Leben aus Gott.